„Nicht jeder Deutsche war ein Nazi“

Lesung aus dem Buch des Widerstandskämpfers Peter Gingold in der ehemaligen Synagoge

Drensteinfurt. Vergangenheit und Gegenwart prallten bei der jüngsten Veranstaltung des Synagogenvereins aufeinander: Ehe die Lesung aus dem Buch von Peter Gingold, „Paris Boulevard St. Martin no.11. Ein jüdischer Antifaschist und Kommunist in der Résistance und der Bundesrepublik“ startete, rückte Synagogenvereins-Vorsitzender Robert Vornholt die aktuellen Ereignisse in Israel und im Gaza-Streifen in den Vordergrund: „Die Welt erlebt seit dem 7. Oktober eine weitere Katastrophe. Erstmals seit der Shoah vor etwa 80 Jahren sind wieder viele Jüdinnen und Juden verfolgt, verletzt und getötet worden. Die Terrororganisation Hamas hat bei dem Massaker rund 1200 Tote teilweise bestialisch umgebracht. Israel hat natürlich ein Recht auf Selbstverteidigung. Gleichzeitig sind die meisten Palästinenser im Gazastreifen nicht Täter, sondern ebenfalls Opfer.  Nur ein Teil der Bevölkerung sind Terroristen“, betonte er, um dann festzustellen: „Antisemitismus darf keine Heimat haben, nirgendwo! Es ist Aufgabe des Synagogenvereins, für Toleranz, Völkerverständigung und Deeskalation einzutreten. Unter diesen Vorzeichen steht auch unsere heutige Veranstaltung. Die Nationalsozialisten glaubten, sie hätten die Reihen für ihre verbrecherische Ideologie fest geschlossen, doch die Reihen waren nur fast geschlossen. Es gab Bauern, die Verfolgte (etwa Marga Spiegel) versteckten; es gab Widerstandskämpfer (etwa die Gruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg), die den Nazis trotzten – und Menschen wie Peter Gingold, die sich auflehnten, kämpften und nicht aufgaben.“ Auch die Tochter des Widerstandskämpfers, Silvia Gingold, ging zu Beginn der Lesung auf die „unerträgliche Situation“ ein: „Die Gewalt auf beiden Seiten muss gestoppt werden“, mahnte sie und stellte klar, dass der Holocaust nicht als Rechtfertigung für Krieg genutzt werden dürfe. „Gewalt darf nicht mit Gewalt beantwortet werden.“

Gemeinsam mit ihrem Sohn Joscha las sie vor etwa 40 Zuhörerinnen und Zuhörern in der ehemaligen Synagoge aus dem Buch von Peter Gingold, der einer der profiliertesten jüdischen Widerstandskämpfer und Kommunisten in der Bundesrepublik war. Die Diagnose über seinen bevorstehenden Tod habe ihren Vater dazu bewegt, sein Leben als Zeitzeuge zu dokumentieren. Die sehr persönlich geprägte Zeitreise startete mit Schilderungen über die Lebenswelt der Großeltern, die – in ärmlichen Verhältnissen lebend – vor dem Hintergrund der immer stärker werdenden Judenverfolgung schließlich nach Frankreich auswanderten. Ihr Vater habe sich dem Widerstand gegen das Hitler-Regime angeschlossen und damit deutlich gemacht, dass „nicht jeder Deutsche ein Nazi“ gewesen sei. Um der drohenden Verhaftung zu entgehen, habe Peter Gingold seinem Bruder in Paris sein Versteck und seinen Pass überlassen. Doch das Schicksal fügte, dass er als Peter Gingold festgenommen und später in Auschwitz getötet worden sei. „Er rettete mein Leben. Ich brachte ihm den Tod“, schrieb Peter Gingold von einer lebenslangen Belastung. Wie durch ein Wunder habe er später aus dem Gestapo-Gefängnis fliehen, um dann weiter im Widerstand aktiv sein zu können. 

Als einziges Familienmitglied sei Peter Gingold nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland zurückgekehrt, um als Zeitzeuge über die NS-Herrschaft zu berichten: „Wer, wenn nicht die Überlebenden, die Antifaschisten, soll dieses Land aufbauen?“, habe ihr Vater als Richtschnur seines Handelns empfunden. Das sei seine „Lebensaufgabe“ geworden, obwohl die meisten Deutschen die Vergangenheit schnell vergessen machen wollten und die Widerstandskämpfer vielfach wie Verbrecher behandelten. Der Appell ihres Vaters laute, sich früh genug gegen Rassismus und Ungerechtigkeit aufzulehnen: „Macht es rechtzeitig, damit ihr nicht so viel riskieren müsst.“

Die Lesung aus dem Leben von Peter Gingold, die auf Initiative von Waltraud Angenendt zustande kann, wurde musikalisch von seinem Enkel Joscha (Oboe) und Ingo Rohrbacher (E-Piano) begleitet, die die Ausführungen mit ausgewählten Liedern stimmungsvoll umrahmten.